Okay, das wird jetzt ziemlich ausführlich (Edit: jup, sogar wieder etwas runtergekürzt mein umfangreichstes Review des Jahres). Ich versuche dabei mal alle Plot-Details, die später als Folge 4-5 kommen, in Spoiler zu packen und das etwas zu gliedern:
Ich habe es ja schon durchblicken lassen: Die Serie hat in meinen Augen wirklich einen Riesenhaufen Probleme, von denen die gravierendsten leider auch gleich im Zentrum der Erzählung verwurzelt sind.
Mein subjektivster ist dabei noch, dass ich Jessica monströs unsympathisch finde. Ihre ganze überzickige „back off“ Attitüde, ihre unkontrollierte Wut und meist unprovozierte Aggressivität gepaart mit ihren ständigen, taktlosen Vorwürfen gegenüber Menschen, die vielleicht mal aus Angst einen Fehler gemacht haben, machen sie für mich zu einem ziemlichen Arschloch. Nur ein kleiner Teil davon lässt sich damit entschuldigen, dass sie Vergewaltigungsopfer ist. Wenn sie aber auch allen anderen Menschen in ihrem Umfeld, die mit ihrem eigenen Leid gar nichts zu tun haben und sie auch in keinster Weise bedrängen, konstant mit massiver Ablehnung und Vorhaltungen begegnet, dann kommt sie einfach wie eine ständig fordernde, undankbare Mistkröte rüber.
Das ist jetzt wie gesagt eher mein subjektives Empfinden ihrer Persönlichkeit.
Wirklich problematisch wird es, wenn man sich mal ihre Kompetenzen, Entscheidungen und Resultate in der Handlung anssieht.
Top Private Investigator?
Entgegen wiederholter Behauptungen anderer Charaktere ist Jessica als Private Investigator ziemlich lausig. Mehr als Einbruch und Einschüchterung hat sie eigentlich nicht drauf. Raffinesse und Spürsinn? Weitgehend Fehlanzeige. Manchmal werden ihr hanebüchene Lügen geglaubt und Informationen rausgerückt. Oder sie bringt Freunde in Schwierigkeiten, um eine Ablenkung zu erzeugen, während sie sich unauffällig (so weit man eine Aggro-Bitch in schwarzen Boots, Lederjacke und Hoodie als unauffällig gelten lässt) irgendwo reinzuschleichen. Siehe Beschaffung des Narkosemittels, bei der sie Malcolm in Probleme bringt.
Das ist ganz schön schwach. Ohne ihre Kräfte zum Türen öffnen und gute Photo-Spots erklimmen/erspringen zu können, wäre sie mit dem Job hoffnungslos überfordert. Die meisten Informationen fallen ihr durch Nebenrollen in den Schoß. Am meisten erstaunt mich dabei, wie viele Leute sich von ihr rumschubsen lassen. Malcolm verzeiht ihr sofort, der andere Nachbar lässt sich immer wieder die Tür ins Gesicht hauen. Die scheinen allesamt Masochisten zu sein, die ihr nur halbherzig Kontra geben und sich dann wieder auf einen ihrer Pläne einlassen, von denen nicht einer mal funktioniert.
Wie oft ist Kilgrave ihr innerhalb der Staffel entkommen?
Das schlimme dabei ist, dass drei Viertel der Staffel komplett überflüssig wären, wenn sie nicht alle anderen davon abgehalten hätte, Kilgrave umzubringen.
Und warum hat sie das nicht zugelassen?
Das Kilgrave must live plot hole
Weil sonst eine Frau vielleicht für 10-15 Jahre unschuldig ins Gefängnis gemusst hätte, wenn und auch nur WENN die beste Anwältin der Stadt daran gescheitert wäre, EINEN einzigen Juror zu überzeugen, dass Gedankenkontrolle möglich ist. Und das in einer Welt, in der ein gewisser Loki zuvor einen ganzen Plaza voller Menschen in willenlose Unterwerfung gezwungen hat und in der ein Kilgrave nicht gerade subtil im extensiven öffentlichen Gebrauch seiner Fähigkeiten ist, woran sich auch ganze Menschenmengen aus einem Restaurants oder einem Polizeirevier erinnern können, womit es wiederum einen Riesenhaufen Zeugen für den Fall gäbe. Wie wahrscheinlich ist es da noch, dass Hogarth diesen Fall verloren hätte?
Und selbst wenn: das wäre ein Furz gewesen gegen all das Leid und den Tod danach. Jessica war doch lange genug mit Kilgrave unterwegs. Die weiß doch, dass an JEDEM Tag, den der noch frei rumläuft, Existenzen zerstört und weitere Frauen vergewaltigt werden. Wie konnte sie das zulassen?
Das Ignorieren der Loki-Verteidigung und simple Abtun aller Zeugen als nicht glaubhaft genug, ist ein monströses Plot Hole, durch das alles folgende Blut an Jessicas Händen klebt. Und was war denn ihr Plan? Irgendwie einen Beweis kriegen, dass Kilgrave Gedanken kontrollieren kann. Aber wie soll ein vor Gericht wasserdichter Beweis denn aussehen ohne dass man den als entweder inszeniert oder erzwungen hätte diskrediteren können? Das wirkte alles sehr, sehr undurchdacht. Und seien wir ehrlich: es war auch eigentlich nur eine billige Art, um den Konflikt in immer weitere Phasen auszudehnen, wo er logisch eigentlich keine mehr zuließ.
Also drängt sie Kilgrave wieder und wieder und weiter in die Enge und zwingt ihn damit ja schon fast zu immer verzweifelteren Gräueltaten und immer neuen Suizid-Geiselnahmen.
Die Show soll angeblich erwachsener sein und erwachsene Themen haben? Sorry, dazu passt aber diese „ich versuche trotzdem JEDEN zu retten“ Mentalität nicht. Sowas gehört in unrealistische Hollywood-Stories, wo der Böse eine Geisel hat und vom Helden verlangt, erst seine Waffe abzulegen und sich dann zu ergeben, was die auch immer brav tun und daran glauben, dass sie am Ende schon irgendwie alle noch heil aus der Sache rauskommen.
Die ganze Jagd auf Kilgrave war einfach gute 6 Episoden zu lang. Die immer konstruierteren Fluchten und Hinderungsgründe ließen Jessica nur rücksichtslos und inkompetent erscheinen, wenn er immer und immer wieder entkommt und jedesmal wieder jemand dabei draufgeht. Völlig lernresistent entscheidet sie sich in diesem Szenario immer wieder gleich: lass ihn entkommen, versuche alle seine Geiseln zu retten, von denen dann aber wieder welche Schaden nehmen. Spätestens beim dritten Mal hätte sie doch langsam mal ihre Strategie ändern sollen und merken müssen, dass hier nur noch Schadensbegrenzung funktioniert. Diese Idiotie zum Zwecke der endlosen Dehnung eines Konflikts, den man auch locker in einem Spielfilm hätte erzählen können, beschädigt die Figur einfach extrem.
Diese elendige Überdehnung einer eigentlich dünnen Story, die Sinnlosigkeit etlicher Plot-Points und Jessicas ganze extreme Arschloch-Attitüde haben die Show für mich wirklich furchtbar runtergezogen. Dass sie am Ende trotz ihrer überwältigenden Inkompetenz unverdient erfolgreich ist, lag auch nur daran, dass Kilgrave ein ähnlicher Dämlack war, der für mich auch nicht stimmig wirkte.
Da haben wir also jemanden, der Gedanken kontrollieren kann und damit angeblich schon seit Kindestagen durch die Welt wütet. So plump und offen wie der seine Fähigkeiten einsetzt, muss man sich einfach fragen, wie er so lange unentdeckt bleiben konnte. Wenn in der Marvel-Welt wirklich SHIELD und ACU und Hydra unterwegs sind, um gifted individuals zu finden und entweder zu rekrutieren oder unschädlich zu machen, wie ist er dann bei so einem Verhalten nicht längst auf deren Radar aufgetaucht? Oder von sonst irgendeiner Behörde? Oder von irgendeinem anderen, früheren Opfer, das mal auf die goldenen zwei Worte „Sniper Rifle“ kommt?
Nebenfiguren als bloße Streckmittel der Handlungen
Ein weiteres writing problem ist für mich, wie offensichtlich viele Nebenrollen primär für einen absehbaren Plot Punkt existiert haben, was dann nur schwach mit einem Subplot kaschiert wurde. Ja, hier läuft mal eine Scheidung, die man aber auch nur eingebaut hat, um die Anwältin eine Gefangennahme verkacken zu lassen, und dort gibt es mal eine Selbsthilfegruppe, die man aber auch nur eingebaut hat, um Jessica weitere Hinweisgeber und Kilgrave später wieder eine handvoll dummer Geiseln zu geben. Und dann haben wir natürlich noch Luke, wo natürlich sofort klar ist, dass er nicht nur als romantic interest da ist, sondern unweigerlich irgendwann von Kilgrave als Bossgegner gegen Jessica in den Ring geschickt wird. Aber sonst ist da einfach fast nichts an Charaktertiefe oder eigenen Motivationen vorhanden. Trish ist da vielleicht die Ausnahme, weil sie die einzige Rolle ist, die mir wirklich sympathisch war und sie in gewisser Weise das gute Herz der Serie darstellt - auch wenn sie in der Rolle immer noch weit hinter Daredevils hinreissender Karen liegt. Gerade der Vergleich macht deutlich, wie extrem die Welt von Jessica Jones von krassen Unsympathen bevölkert ist. Die Figuren sind in der Handlung, weil sie dem Plot dienen. Fertig. Dazwischen werden sie auch gerne mal für etliche Folgen fallen gelassen
Just let it be magic - Wo Kilgrave zu wenig und zu viel erklärt wird
Auch bei Kilgrave gibt es wenig Eigenmotivation. Kingpin hatte noch Interessen, Wünsche, eine Vision, Sehnsüchte. Kilgrave dagegen ist nur von Jessica besessen und das war es dann auch schon. Warum er überhaupt so vernarrt in eine Frau ist, die als freudlose, dauerangepisste Motzkuh durch die Welt stapft und versucht, sich ihren Selbsthass wegzusaufen, ist schwer nachzuvollziehen. Ich sehe die Attraktivität nicht.
Vielleicht erinnert es ihn daran, dass er selbst auch nur ein wütender Bengel mit Trotzanfällen ist, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Nach dem zu Staffelbeginn noch sehr effektiven Anteasern seiner Figur hatte ich hier einen Charakter vom Format eines Hannibal erwartet. Stattdessen gibt es ein wütendes Manchild, bei dem man sich fragt, wie er sich so lange in der Welt halten konnte, ohne in den Hauptnachrichten zu landen. Und dann ist da ja noch die schreckliche Story um die Herkunft seiner Kräfte:
Manchmal wünscht man sich echt, die Autoren von solchen Serien wären einfach bei einem simplen „because Magic“ geblieben. Nein, aber hier bringt man nicht nur eine absolut sinnbefreite Erklärung sondern macht sie auch noch zu einem wesentlichen Plot-Punkt des letzten Staffeldrittels. Wenn ich eine Erklärung habe, die so wackelig und schwachsinnig ist, richte ich doch nicht noch ein Spotlight darauf. Vor allem weil die Beleuchtung der Funktionsweise seiner Kräfte dann umso mehr dazu einlädt, an all die offensichtlichsten Gegenmaßnahmen zu denken: wie zum Beispiel GEHÖRSCHUTZSTOPFEN verdammte Scheiße nochmal! Ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen wie ich oft ich diese Worte in meinen Fernseher gebrüllt habe.
Fehlende Schauwerte und mäßiges Handwerk
Wenn die Show hinter dieser miesen Story wenigstens noch mit Action und Schauwerten punkten könnte. Aber das war bloß ziemlich mittelmäßige Regie, viel Farbfiltereinsatz, mäßige Cinematographie und ziemlich schlappe Action. Die einzig etwas hervorstechende Kampfsequenz war die von Anfang an erwartete, die dann zum Staffelende hin endlich kam, und da habe ich allein in den letzten paar Wochen bessere Fights ins SHIELD, Flash UND Arrow gesehen. Die haben auch allesamt bessere Wirework-Arbeit, so dass es nicht so sonderbar falsch aussieht, in was für komischen Bögen umgeboxte Gegner durch die Luft fliegen, um nach einem offensichtlichen Schnitt in offensichtliche Prop-Holz-Tische und Pappwände zu knallen. Selten in einer moderneren Serie sahen Superkräfte so unglaubwürdig aus wie hier. Ganz davon abgesehen, dass die Kampf-Choreographie auch genauso lustlos aussah wie Jessica die meiste Zeit. Der generisch vor sich hindudelnde Jazz-Soundtrack hat es auch nicht besser gemacht.
Insgesamt (ja, ich komme endlich zum Ende) ist Jessica Jones für mich ein gewaltiger Reinfall und mit Abstand das schwächste, was ich sowohl aus dem Hause Netflix als auch von Marvel bisher gesehen habe. Es ist die ganze Zeit nur Pseudo-Erwachsen, weil mal gesoffen wird und von Kilgraves Vergewaltigungen gesprochen wird, aber eigentlich folgt es den uralten Hollywood-Standardformeln des Hero tries to save them all. Nur dass sie hier regelmäßig scheitert und selbst maximal neutral betrachtet ganz schön dumm agiert. Eine komplexere Auseinandersetzung mit den Themen survivors guilt, Rache, Sühne und Vergebung kommt nicht vor. Alles bleibt total oberflächlich. Jessica bleibt total oberflächlich. Sie stößt dauerangepisst einfach alle weg, lädt ein irrwitziges Maß an Schuld auf sich, das in der Story viel zu wenig thematisiert wird und kommt trotz einem Haufen idiotischer Pläne am Ende damit durch. Eine wirkliche Charakterentwicklung hat da nicht stattgefunden.
Handwerklich schwach, blasse Nebenfiguren, ein Schurke, der trotz allem Potential dazu wenig bedrohlich wirkt und in seiner Superkraft keinen Sinn ergibt, und absurd konstruierte Hinderungsgründe, um eine zu dünne Story auf eine zu lange Staffel zu strecken: Jessica Jones ist für mich der Rohrkrepierer des Jahres mit minimalem Unterhaltungswert, einer unausstehlichen Protagonistin ohne redeeming qualities und sehr mäßigen production values, was ich so von Netflix nie erwartet hätte.
3/10